Wolodymyr Selenskyj: Komiker, Schauspieler und Präsident der Ukraine. Bild: EPA/EPA
Die Ukrainer haben einen Schauspieler zum neuen Präsidenten gewählt. Verrückt ist das schon. Aber vor allem ein weiterer Schritt Richtung rechtsstaatliche Demokratie.
Man stelle sich vor, Jan Böhmermann trifft sich an einem Abend vor der Wahl mit Angela Merkel im Berliner Olympiastadion. Sie lassen die Fussballtore von Hertha BSC abbauen, zwei Bühnen errichten und streiten sich über die Zukunft Deutschlands. Dazu ein Rock-Konzert von Marius Müller-Westernhagen. Tausende fiebern auf den Stadiontribünen mit, alle TV-Sender der Republik übertragen live. Und dann wählen mehr als 70 Prozent der Deutschen den Entertainer.
So ähnlich geschah es gerade in der Ukraine. Wolodymyr Selenskyj, ein 41-jähriger TV-Produzent und Komiker, der niemals ein öffentliches Amt inne hatte, aber seit zwei Jahren einen ausgedachten Präsidenten in einer Serie spielt, ist der neue, der echte ukrainische Präsident. Die TV-Figur Selenskyj hat den Fernsehbildschirm verlassen, am Freitagabend die Bühne des Kiewer Olympiastadions betreten und am Sonntag eine klare Mehrheit der Wählerinnen und Wähler überzeugt. An dieser Stelle der Geschichte sei eine Frage erlaubt: Wie verrückt ist das denn?
Das Mass an Entertainment durfte man in der ukrainischen Politik noch nie unterschätzen. Doch die Wahl Selenskyjs zum Präsidenten ist weitaus mehr als ein Märchen, das Wirklichkeit wurde. Sie ist ein weiterer wichtiger Schritt der ukrainischen Gesellschaft auf ihrem Weg der Demokratisierung.
Klar, die Ukraine ist noch lange kein lupenreiner Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten, völlig freier Presse und Politikern, die Korruptionszahlungen verhindern, statt sich selbst zu bereichern. Aber dieses Land entwickelt sich in diese Richtung. Und die Wahl des charismatischen Schauspielers ist ein Beleg dafür.
Vieles ist historisch am Erfolg Selenskyjs. Er erreichte mit 73 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis, das je ein Präsident in einer Stichwahl erzielte. Er ist der jüngste Präsident der ukrainischen Geschichte. Sein Auftreten erinnert irgendwie an Emmanuel Macron, Donald Trump und Beppe Grillo zugleich. Seine Mischung aus fiktivem und digitalem Wahlkampf ist so einzigartig, dass es wohl keine Vorbilder gibt.
Mindestens ebenso bedeutend wie Selenskyjs faszinierender Aufstieg ist die Niederlage Petro Poroschenkos. In einem Land, in dem der eine frühere Präsident vergiftet wurde (Wiktor Juschtschenko), der andere mit Todesangst nach Russland floh (Wiktor Janukowitsch) ist eine weitestgehend freie Wahl ebenso wenig selbstverständlich wie ein fairer Verlierer. «Ich werde den Posten als Oberhaupt des Staates verlassen. So hat es die Mehrheit der Ukrainer entschieden, und ich akzeptiere diese Entscheidung», sagte Poroschenko noch am Wahlabend. Danach rief er Selenskyj an und sicherte ihm Unterstützung zu.
Petro Poroschenko muss abtreten. Bild: EPA/EPA
Die voranschreitende Demokratisierung der Ukraine ist aus drei weiteren Gründen besonders. Erstens weil so ein Prozess gewöhnlich mehrere Jahrzehnte benötigt. Zieht man von den offiziellen 28 Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung vom Sowjetreich im Jahr 1991 jene Zeitspanne ab, in denen der Kreml im Geheimen weiter über die Ukraine bestimmte, bleiben nicht viele Jahre der Entwicklung, Emanzipation und Liberalisierung. Es ist übrigens noch nicht lange her, da wurden auch in der Ukraine unter dem autokratisch herrschenden Janukowitsch Wähler-Stimmen mit Geld gekauft.
Zweitens weil in diesem Land immer noch Woche für Woche ein Krieg seine Opfer fordert, den die russische Regierung gleich nach der Annexion der Krim entfachte. Und drittens, weil es gemessen am Hass und Leid, den mehr als 13'000 – in einem Wort: dreizehntausend! – an der Front Getötete hinterlassen, fast ein Wunder ist, wie besonnen die Ukrainer reagieren.
Laut Internationalem Währungsfonds ist die Ukraine hinter der Republik Moldawien, Belarus und Russland das ärmste Land Europas. Krieg, Armut, begrabene Revolutions-Hoffnungen, stockende Reformen und dann noch wählen gehen?
Dann erst recht, sagten sich viele Ukrainerinnen und Ukrainer. In den Tagen vor der Wahl diskutierten die Bürger in der U-Bahn, am Strand des Dnepr, in der gigantischen Residenz vom Ex-Präsidenten Janukowitsch (wo immer noch seine Wildschweine und Straussen leben), in den Hipster-Cafés, auf dem Maidan und vor den Kirchen der Hauptstadt über fast nichts anderes als die Präsidentschaftswahl. Wer Wut, Abkehr vom politischen System oder gar konterrevolutionäre Stimmung erwartete, erlebte das Gegenteil, eine Eventisierung der Politik. Mit jeweils mehr als 62 Prozent war die Wahlbeteiligung im ersten und zweiten Wahlgang sogar höher als bei der vergangenen Abstimmung.
Die Ukraine ist fünf Jahre nach der Revolution der Würde geeinter als jemals zuvor. Ähnelten Präsidentschaftswahlen vor dem Volksaufstand noch einem Richtungswechsel eines Pendels, schwenkt das Land jetzt nicht mehr zwischen Ost- und West hin und her. Eine an russischen Interessen ausgerichtete Regierung ist nicht mehr mehrheitsfähig. Selenskyj strebt wie Poroschenko einen EU-Beitritt an. Zur Frage, ob sein Land der Nato beitreten sollte, will er die Bevölkerung befragen.
Gewiss, dieser Wahlkampf hatte auch viele hässliche Aspekte. In einem seiner Social-Media-Videos beerdigt Selenskyj den Präsidenten der Ukraine und lästert noch am Grab über dessen Erbe. Als «Marionette eines Oligarchen» beschimpfte wiederum Poroschenko seinen Nachfolger. Doch trotz einiger Entgleisungen. Als es zum Streitgespräch mit Event-Charakter vor Tausenden Zuschauern im Olympiastadion kam, sassen nicht nur in der Ukraine viele Zuschauer vor den Bildschirmen. Auch in Belarus und Russland verfolgten viele mit Interesse die demokratische freie Debatten-Kultur in ihrem Nachbarland. «Als ein Bürger der Ukrainer sage ich in alle Länder der früheren Sowjetunion», sagte Wolodymyr Selenskyjs nach seinem Sieg: «Schaut zu uns. Alles ist möglich.» Sein Erfolg gibt ihm Recht.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.