Italienerinnen auf der Reise in die Schweiz. Chiasso, 1950. Bild: SBB Historic
Mit der von Gottlieb Duttweiler lancierten «Trentiner-Aktion» kommt 1946 eine erste Welle junger Italienerinnen in die Schweizer Haushalte.
Ab dem Sommer 1946 machen sich im kriegsversehrten Trentino tausende junger Frauen auf den Weg, um bei einer Schweizer Familie eine Stelle als Dienstmädchen anzutreten. Sie heissen Bruna oder Laura, Alessia oder Silvia, sind 18 oder 20 Jahre jung und entstammen kinderreichen Familien. Für sie alle ist es die erste Reise, hinaus aus der Armut ihrer Dörfer in ein fremdes Land − das sie dringend erwartet.
Den ganzen Sommer über fahren wöchentlich Eisenbahnzüge voller Ragazze nach Chiasso und von dort weiter in alle Regionen der Schweiz. So werden am 22. August 127 Dienstmädchen spediert, am 29. August weitere 120 und gleichentags wird zudem die Abreise von 40 Bauerndienstmädchen avisiert. Abgefertigt werden die Dienstmädchenzüge von einem Prokuristen der Migros mit Arbeitsort Grande-Albergo, Trento. Sein Auftraggeber ist der Migros Genossenschaftsbund in Zürich.
Die «Basler Woche» veröffentlichte 1947 eine Karikatur von Gottlieb Duttweiler als Mädchenhändler. Bild: Historisches Firmenarchiv des Migros-Genossenschafts-Bundes
Diesen «Direktimport» von jungen Frauen aus Norditalien hat sich der zeitlebens umtriebige Gottlieb Duttweiler kurz nach Kriegsende einfallen lassen. Bei dem von ihm «Trentiner-Aktion» genannten Angebot konnten kinderreiche Schweizer Familien eine junge Italienerin bei der Migros bestellen. Die Aktion wird zu einem Selbstläufer.
Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler bei einer Rede, 1949. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum /ASL
In den ersten Monaten kommen die Anwerber vor Ort kaum hinterher, die vielen Wünsche zu erfüllen, derweil sich in Zürich die Migros-Zentrale im Erfolg sonnt und im Brückenbauer ganzseitige Berichte über diese Wohltat verbreitet werden:
Italienische Bauerndienstmädchen in einem Schweizer Dorf. Das Bild ist 1950 entstanden. Bild: zvg
Von nun an gehört auch eine schwarzgelockte Maria zur Migros-Familie. Im Werbespielfilm «Familie M», den Duttweiler 1947 produzieren lässt, erklärt die Mutter beim sonntäglichen Mittagessen ihrem freundlichen Nachbarn: «Du, d Maria isch dänn au vo de Migros» worauf der mit verklärtem Männerblick in die Kamera sinniert: «Ja, ich wär jetzt au no froh um sones Tschinggeli, mini Frau isch nämlich grad i de Ferie.»
1946 startete die Migros die Trentiner-Aktion. Kinderreiche Schweizer Familien konnten eine Italienerin als Hilfe bestellen. Bild: Historisches Firmenarchiv des Migros-Genossenschafts-Bundes
So ein «Tschinggeli» war auch Agnese aus Civezzano. «Es war notwendig», erinnert sie sich: «Wir waren eine povera famiglia. Ich hatte acht Geschwister. Wir waren arm. Unsere Matratzen waren mit Maisblättern gestopft. Ich war die Älteste, also bin ich gegangen. Wir waren viele. Aus allen Dörfern sind wir gekommen, alle von der Migros angeworben. Wir wussten nur, dass in der Schweiz Signori auf uns warten, die eine Ragazza brauchen.»
Einreise von Italienerinnen am Bahnhof in Chiasso, 1950. Bild: SBB Historic
Agnese war zu einem Monatslohn von 120 Franken auf der Bestellliste für Zürich. Im Hauptbahnhof wurden die Trentinerinnen durch das Migros-Personal und die Frauen der Bahnhofshilfe in Empfang genommen.
Die jungen Frauen reisten über Chiasso in die Schweiz ein, wo sie danach auf ihre neuen Arbeitsstellen verteilt wurden. Bild: SBB Historic
Zwischen Juni 1946 und Februar 1947 verhilft die Migros etwa 3000 Schweizer Familien zu einer Haushaltshilfe aus dem Trentino. Eigentlich sollten es 5000 werden, doch die italienischen Behörden wollten auf Druck der Gewerkschaften die ungeregelte Anwerbung von Arbeitskräften nicht länger tolerieren. Im Juni 1948 unterzeichnen Italien und die Schweiz das erste gemeinsame Abkommen über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte.
Video: srf